Wir schrieben das Jahr 1980. Unser Urlaubstörn neigte sich dem Ende zu. Bei mäßigem südwestlichen Wind segelten wir in der „Dänischen Südsee“ von Fåborg auf der Insel Fünen nach Mommark auf Alsen.
Die am Horizont liegende dunkle Küstenlinie nahm immer klarere Formen an. Die Insel Alsen mit ihren grünwogenden Getreidefeldern und der Hafen von Mommark waren bald gut zu erkennen. Der Wind wurde bereits schwächer, da wir schon im Windschutz von Alsen lagen. Beim Auslaufen aus Fåborg unter Motor hatten wir eine Kollision mit einem unbekannten Gegenstand. Nun musste Jan, bevor der Motor wieder gestartet wurde, erst einmal den Propeller auf etwaige Schäden untersuchen. „Wir segeln bis dicht unter die Küste von Alsen. Nördlich von der Hafeneinfahrt Mommark werfen wir den Anker. „Ich tauche dann hinunter und überprüfe den Propeller und das Unterwasserschiff auf Schäden“, erklärte mein Skipper mir. Auf drei Meter Wassertiefe fiel dann auch der Anker und die Ankerkette kam langsam steif. Inzwischen hatte Ingo die Segelkleidung gegen die Badehose vertauscht. In der Backskiste kramte er nach Taucherbrille und Schnorchel und stieg dann hinab in das kühle Ostseewasser. Ab und zu hörte ich ihn die Luft durch den Schnorchel pressen.
Ich warf einen Blick auf die Ankerkette und dann auf die Windex, die Windrichtungsanzeige auf dem Masttop. Unser Boot hatte sich nicht in den Wind gelegt, sondern wies mit dem Bug nach Norden. Als frischgebackene Inhaberin des BR-Segelscheines bemerkte ich natürlich, dass wir hier direkt unter Land Neerstrom hatten, der in die Richtung des Windes, also nach Süden, setzte.
Der Skipper tauchte wieder auf der Badeleiter am Heckkorb auf. „Ich kann keine Beschädigung feststellen. Eventuell ist uns nur ein größerer Zweig oder eine Kunststofftüte in den Propeller geraten, aber durch die Fahrtgeschwindigkeit wieder freigekommen. Wir laufen jetzt in den Hafen ein.“ Die Worte des Skippers beruhigten mich. Zwar lauschte ich noch etwas ängstlich dem Motorenklang nach dem Start, aber es war nichts Verdächtiges zu hören. Ingo holte den Anker ein und mit langsamer Fahrt steuerte er unser Segelboot in den Hafen. Bald hatten wir festgemacht. Nachdem am und im Boot alles aufgeräumt war, nahmen wir einen kleinen Imbiß zur Stärkung. Anschließend stand ein Hafenbummel über das Hafenvorfeld auf dem Programm. Direkt neben dem Hafengelände lag ein gut besuchter Campingplatz, auf dem reges Treiben herrschte. Der Duft von gegrilltem Fleisch und Würstchen drang zu uns herüber. Doch uns zog es zu unserem Boot zurück.
Die orangefarbene Sonne neigte sich langsam dem in einem zarten blaugrauen Dunst liegenden Horizont zu. Kleine weiße Wölkchen segelten bedächtig am Himmel dahin. Der nächste Tag versprach wieder ein schöner Segeltag zu werden.
Wir saßen noch an Deck und beobachteten bei einem Schlummertrunk das abendliche Geschehen im Hafen. Am Kopf des Steges hatte ein Segelkutter festgemacht. „Sieh mal, da, die alte Frau, sie schaut etwas ängstlich und besorgt aus. Als ob sie jemanden sucht“, machte ich Ingo auf eine ältere Dame aufmerksam, die zögernd und unsicheren Schrittes den Steg, an dem wir festgemacht hatten, betrat. Auch er blickte hinüber. Doch die alte Dame schaute nicht zu uns sondern, ging langsam zu dem Segelkutter. Unentschlossen stand sie vor dem Schiff. Dann rief sie leise und klopfte zögernd an die Reling. Ein Crewmitglied erschien und hörte der Dame zu. Durch Winken und einem kurzen Zuruf verständigte er seine übrige Besatzung. Dann legte der Segler besänftigend den Arm um die Schultern der Frau und geleitete sie zum Hafenvorplatz. Die restliche Crew machte rasch den Kutter zum Auslaufen klar. „Die alte Dame hat mir gerade mitgeteilt, dass sie ihren Sohn und die Schwiegertochter vermisst“, berichtete der Skipper. „Die beiden sind heute Mittag mit einem offenen Angelboot und Außenborder zum Angeln ausgelaufen und wollten um sechzehn Uhr zurück sein. Nun ist es bereits zwanzig Uhr und nirgends ist das Boot zu sehen. Die alte Dame wusste keinen Rat und bittet uns um Hilfe. Leider habe ich - und wie ich sehe auch Sie - kein Funkgerät an Bord, um die Küstenfunkstation zu benachrichtigen. Ich werde mit meinem Kutter die Küste absuchen. Meine Bitte an Sie ist, die hier bleibenden Damen meiner Crew an Bord zu nehmen.“ Jan nickte zustimmend. „Wir werden die Küste nördlich des Hafens absuchen. Das Angelboot kann nur in diese Richtung getrieben sein. Ich bin ehemaliger U-Boot-Kommandant aus dem zweiten Weltkrieg und habe bei der Ansteuerung von Mommark festgestellt, dass wir zwei Knoten Strom haben, der nach Norden setzt“, erklärte unser Nachbar seine Absichten.
Ich stutzte. Das mit dem Strom konnte nicht ganz stimmen, wir hatten unter der Küste Neerstrom nach Süden setzend. Das hatte ich beim Ankern beobachtet. Leise räusperte ich mich und wollte meine Beobachtung mitteilen. Doch beachtete mich niemand. Und ein bisschen verunsicherte es mich, dass der Skipper des Nachbarbootes U-Boot-Kommandant gewesen war. Da war er mit der Navigation vertraut und musste es wissen. Aber trotzdem, unser Boot lag beim Ankern nicht im Wind, das bedeutete Neerstrom.
Nach Einbruch der Dunkelheit kehrte der Segelkutter zurück. „Wir hatten keinen Erfolg. Keine Spur von dem Angelboot zu sehen. Draußen haben wir den dänischen Zollkutter getroffen. Die Besatzung wird über Nacht weiter nach dem Angelboot suchen und hat auch eine Meldung an die Küstenfunkstation abgegeben.“ Niedergeschlagen berichtete uns die Crew von der erfolglosen Suche. Alle überlegten wir, was mit dem Angelboot geschehen sein konnte. Inzwischen überbrachte der Skipper des Suchschiffs der alten Dame die böse Nachricht. Nachdenklich und bedrückt zogen wir uns dann in die Kojen zurück. Meine Gedanken wanderten zu den beiden Urlaubern. Was war mit ihnen geschehen? Hatten sie wirklich kein Land erreichen können?
Am nächsten Morgen weckte uns warmer Sonnenschein und ein leichter Wind säuselte durch die Masten. „Du schau mal, da liegt ja der Zollkutter“, rief ich Ingo zu, der seinen Kopf noch nicht aus der Kajüte heraus gesteckt hatte. „Ob das Angelboot gefunden wurde?“ „Ja, der Zollkutter hat das Angelboot mit den beiden Insassen gefunden“, antwortete mir freudig unser Nachbar. „Das Paar ist wohlauf. Der Anker hatte nicht gehalten. So trieben sie ab.“ Wir atmeten auf. „Wo hat der Zollkutter das Boot denn gefunden? Nördlich oder südlich von hier?“, wagte ich nun doch zu fragen. „Ja, das ist seltsam. Das Boot ist nach Süden abgetrieben“, erwiderte der ehemalige U-Boot-Kommandant. „Dort hatten wir nicht gesucht.“
„Also war meine Beobachtung mit dem Neerstrom doch richtig“, stellte ich fest. Von Bord des Nachbarbootes sah man mich ungläubig und fast missbilligend an. „Meine Frau ist frischgebackene BR-Schein-Inhaberin. Sie hatte nur nicht den Mut, Ihnen als kompetenten Marineoffizier zu widersprechen und ihre Beobachtung mitzuteilen, da Sie sehr bestimmt von nordsetzendem Strom sprachen“, klärte Jan, der inzwischen auch an Deck gekommen war, den Skipper auf.
Auf den Gesichtszügen unseres Nachbarn zeigten sich seine widerstreitenden Gefühle. Wie konnte eine Frau, und wenn sie auch BR-Schein-Inhaberin war, mehr von der Navigation verstehen wie er.
Astrid Grellert